Als ich von „The Floating Piers“ auf dem Iseo See im Norden Italiens aus der Zeitung erfuhr, wußte ich: da muss ich hin und drauf laufen! Die einmalige Chance auf einem Kunstwerk zu laufen, das wollte ich mir nicht entgehen lassen.

Die jüngste Installation Christos lockte innerhalb von 14 Tagen über 1,2 Millionen Besucher aus aller Welt aufs Wasser und verband die Stadt Sulzano mit der Monte Isola und der Insel San Paolo am Iseo See. Der Künstler überzog dabei 3 km lange Stege aus 200.000 Pontons, mit 70.000 Quadratmetern leuchtend orangenem Stoff. Die Kosten beliefen sich auf ca.15 Millionen Euro.

Mein Plan sieht so aus, dass ich von Köln nach Bergamo fliege, um 23:30 Uhr lande und dann vom Flughafen aus nach Sulzano mit Stirnlampe und Laufrucksack jogge. Genau 42 Kilometer durch die Nacht um rechtzeitig zur Öffnung der Floating Piers am Iseo See zu sein. An Board treffe ich zufällig eine befreundete Triathletin und erzähle ihr von meiner Nacht-Lauf-Idee: Sehr günstig und kein Verkehr!

Einen Marathon zum See laufen und das mitten in der Nacht, das wäre nicht ganz normal, ob ich mir nicht ein Taxi nach Sulzano teilen wolle um pünktlich um fünf an den Piers zu stehen. Gesagt, getan.

Die gewonnen vier Stunden verbringe ich damit, mich mit den Ordnern anzufreunden, immerhin will ich ja auf den Piers laufen, was offiziell nicht gewünscht ist. 40 Minuten lege ich mich zum Schlafen auf den orangenen Stoff direkt ans Wasser und genieße die Sommernacht. Ich merke, wie die Vorfreude in mir aufkommt je näher die Öffnung rückt. Ich bin neugierig und will wissen, was die Einwohner von Sulzano über Christos Kunstwerk denken und ob es etwas verändert. Eine Barbesitzerin erzählt mir, dass sie 24 Stunden am Tag geöffnet hat und sie es als große Chance sieht. Die Welt kennt jetzt Sulzano und sie seien nun in den Geschichtsbüchern. Außerdem könne man ja auch mal zwei Wochen etwas mehr arbeiten. Die alte Dame mit Hund meint nur: „Mir gefallen die leuchtenden Stege und die vielen jungen Menschen. Und die sind alle so nett und friedlich.“ Nur dass sie im Moment nicht mit Bus und Bahn zu Ihren Freundinnen käme, das wäre schade, aber es wäre einfach zu voll.

Pünktlich um 5 Uhr werden die 60-70 wartenden Besucher zu den Piers geführt. Stockdunkel ist es, nur die Beleuchtung auf den Stegen lässt den Verlauf des Kunstwerks erahnen. Mit den ersten Schritten spüre ich die sanften Wellen unter den Füßen. Steg und Stoff bewegen sich rhythmisch wie eine Raupe im Morgengrauen. Ich muß mich erst an den schwankenden Untergrund gewöhnen. Die Pontons, oben weich wie ein Trampolin, an den Rändern hart und kantig, erlauben kaum regelmäßige Schritte. Der glatte Stoff rutscht auf dem Plastikuntergrund hin und her und wirft dann auch noch so viele Falten, dass man ständig mit den Fußspitzen hängen bleibt. Gleichgewicht und Konzentration sind zur frühen Morgenstunde gefragt.

In der Dämmerung laufe ich meine erste Runde. Die orangenen „Floating Piers“ liegen ruhig auf dem See und warten darauf durch die ersten Sonnenstrahlen zum Leben erweckt zu werden. Je weiter ich auf den See Richtung San Paolo laufe, desto kühler wird es und ich genieße die Einsamkeit und Stille auf dem See bevor die Besucherströme kommen. Christo hat die schwimmenden Stege als „balancieren auf einem Wal“ angepriesen.

Die ersten Sonnenstrahlen tauchen den Stoff in ein intensives Orange und jede Minute änderte sich die Farbe. Beeindruckend! Je nach Blickwinkel wirkt der Stoff orange oder golden, glänzend hell oder wie Bronze. Die Falten und nassen Stellen lassen ihn lebendig wirken.

2 Stunden später weicht die morgendliche Ruhe einem hektischen Treiben auf den Piers. Gegen Mittag geht es bei 36 Grad nur noch im Gänseschritt voran. Ich nutze den Rest des Tages um Bilder zu machen, tolle neue Leute kennen zu lernen, im See baden zu gehen und den Künstler himself live zu sehen. Zum Abschluss schenken mir Ordner noch zwei Stück orangenen Stoff des Kunstwerks. Daraus kann ich mir meine eigene Kunst machen.

1995 habe ich den verhüllten Reichstag in Berlin live miterlebt und von meiner Patentante ein Bild von Christo geschenkt bekommen. Seitdem bin ich von Christos Arbeiten und Ideen fasziniert. Das ich 21 Jahre später einmal darüber laufe ist einfach großartig und verzaubernd.

Vielen Dank an Birgit Blum und Cordula Rettenmaier für die Fotos.